 
bis zum 20. Januar
Haus
der Kulturen der Welt
John-Foster-Dulles-Allee 10
10557 Berlin
Di - So 11 - 20 Uhr, Eintritt frei
"CASE HISTORY" - eine Krankengeschichte zeigt der ukrainische
Fotograf Boris Mikhailov am Beispiel von Obdachlosen: Alte und Junge,
Männer, Frauen, Kinder, die aus seiner Heimatstadt Charkov stammen. Die
Krankengeschichte ist die der neuen Gesellschaftsordnung in der ehemaligen
Sowjetunion; ob Charkov, ob
Moskau oder Irkutsk - überall ließen sich ähnliche Bilder finden. Obdachlosigkeit
ist ein neues Phänomen: früher hatten alle wenigstens ein Dach über dem
Kopf und eine gewisse Absicherung durch die Rente, heute haben viele die
Orientierung verloren, jedwegliche Sozialabsicherungen fehlen. Das einzige
Angebot für Leute, die in Charkov auf der Straße leben, ist eine Suppenmahlzeit,
die einmal pro Woche von der katholischen Kirche verteilt wird.
Mikhailov zeigt nun diese neuen Antihelden beim Reden, Lachen, Posieren,
Trinken, Pinkeln, Baden. Viele der Aufnahmen sind inszeniert, was sie
von reinen Dokumentarfotografien unterscheidet. Mikhailovs Ehefrau, Viktorija,
bat die Dargestellten Modell zu stehen und zahlte ihnen dafür eine geringe
Summe. Bewußt thematisiert Mikhailov so die Macht des Geldes, indem er
die Modelle anleitete, Tabus zu durchbrechen und sie ihre Geschlechtsteile
zeigen läßt oder sie beim Waschen fotografierte. Eine Schamgrenze existiert
nicht mehr. Einem reinen Voyeurismus steht entgegen, daß Mikhailov Fotografien
von sich und seiner Frau unter die Porträts der Obdachlosen gemischt hat,
wie um Grenzen zu verwischen und zu sagen: "Seht her, ich bin einer
von ihnen." Diese Anteilnahme spürt man in den Bildern, trotzdem
möchte man zugleich hin- und wegsehen können.
Die große Ausstellungshalle ist nicht, wie sonst häufig, durch Trennwände
unterteilt und das ist gut so, denn der Raum wird dringend zum Luftholen
gebraucht. Das Projekt CASE HISTORY umfaßt nicht ganz 500 Fotogafien,
die
zwischen 1997-99 entstanden sind; zum ersten Mal sind in Berlin fast 300
davon zu sehen. Kleine Brüche in der Hängung verhindern jedoch eine Ermüdung
beim Betrachter. Die zentrale lebensgroße gerahmte Gruppe von Fotografien
in einer winterlichen Landschaft sind für Mikhailov Schlüsselwerke, die
er "Requiem" nennt und die bewußt christliche Ikonografie zitieren.
Sie sind erhaben, distanziert und von einer gewissen Romantik. Die ungerahmten
großen Farbaufnahmen hingegen vermitteln eine große Präsenz der Modelle,
sie springen den Betrachter förmlich an, während die unzähligen kleinen
Arbeiten an der Stirnseite gerade zum Näherhinsehen einladen, aber durch
die Menge und die offene Hängung eine Unendlichkeit suggerieren. In einem
kleinen Kabinett sind die intimsten Fotografien zu sehen; sie zeigen immer
wieder die gleichen Personen und im Kopf des Betrachters entsteht eine
kleine Geschichte, was durch die unbeschnittenen Papierabzüge mit dem
Filmstreifen am Rand auch im Formalen seine Entsprechung findet. Ein Foto
von einer Bananenschale fällt aus dem Rahmen, unterstreicht die Inszenierung
und vielleicht auch Mikhailovs Sinn für absurde Komik.
Das Projekt wurde zuerst in Zusammenarbeit mit dem daad
als Buch veröffentlicht (Scalo-Verlag 1999), bei dessen Präsentation schon
ein kleiner Teil der Fotografien ausgestellt wurde. Die Verleihung des
renommierten Hasselblad-Award 2000 und des Photopreises der City-Bank,
ebenso wie die Ausstellung in der Saatchi-Collection London, gaben Anlaß
für die Berliner Ausstellung.
 
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